foto: wonge bergmann
 
 

Clark Gable am Strumpfband
Preußische Sprechmaschine: Lilo Wanders spielt "Der graue Engel" im Mousonturm

Ein Kiesbett, darauf drei kleine Monitorlautsprecher. Mehr braucht es nicht für Birgitta Lindes Inszenierung von Moritz Rinkes Monolog "Der graue Engel" auf der Studiobühne des Mousonturms. Rinkes Mitte der neunziger Jahre uraufgeführtes Debüt macht aus der Filmdiva Marlene Dietrich eine verbitterte Greisin, eine in sich selbst gefangene Sprechmaschine, die die Versatzstücke ihres Lebens abspult. Da die Auseinandersetzung mit Sprache eine der Obsessionen von Birgitta Linde ist, mu§te "Der graue Engel" früher oder später auf ihrem Spielplan landen. Und ähnlich wie in ihren Theaterversuchen zu Peter Handke, Gertrude Stein oder Feridun Zaimoglu setzt Birgitta Linde auch in ihrer Rinke-Bearbeitung den Sprechakt als Welterzeugungsinstanz in Szene.

Gestützt, kommentiert, konterkariert wird der Monolog allein durch die elektronischen Klänge - orchestrale Versatzstücke, Rhythmusblöcke, Geräuschcollagen von Hubert Machnik, die wie eine Art Filmmusik, doch entschieden selbständiger, dem Text unterliegen. "Man muß die Künstlichkeit wie einen Schutzschild vor das Leben halten", sagt der graue Engel Marlene einmal, und ebendiese Künstlichkeit ist der Dreh- und Angelpunkt des Stückes.

Insofern läßt sich keine bessere Besetzung denken als Lilo Wanders. Der durch seine TV-Show "Wa(h)re Liebe" bekannte Travestie-Star lebt als Mensch und Schauspieler im Spannungsfeld zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit. Wenn Wanders als Marlene die Bühne betritt, entsteht so etwas wie potenzierte Künstlichkeit, die Travestie der Travestie, und dadurch paradoxerweise wiederum ein überaus transparentes Porträt der Künstlerin als alternde Diva. Das ist so komisch wie traurig, so anrührend wie schlichtweg witzig. Die Frau, so wird offenbar, ist gewohnt zu herrschen. Sie weiß genau, was sie will, und sie weiß: Sie bekommt es auch. Männer zum Beispiel. Mühelos kommt sie auf 2500 Liebhaber, deren Bildchen als Medaillon ihre Strumpfbänder zieren. Jean Gabin, Clark Gable, Gary Cooper, Remarque und andere große Namen aus Politik und Showbusiness - alle werden bald impotent und damit für den Hunger der Diva untauglich. Aber in ihren Gedanken sind sie gegenwärtig, Erinnerungen an eine Zeit, in der ein Fingerschnippen genügte, um die Kerle gefügig zu machen.

Das ist die eine Seite der Diva. Die andere sind preußische Disziplin, Textlernen und der kategorische Imperativ. "Um fünf Uhr morgens ist Immanuel Kant aufgestanden . . .", repetiert die Alte immer wieder und beklagt sich, daß heute niemand mehr weiß, wie ein Fußboden geschrubbt werden muß. Lilo Wanders gelingt es, die Dietrich als Wortmaschine und leidenden Menschen zu spielen. Sie geht am Stock und sitzt mit üppigem Pelzmantel im Rollstuhl, ist kratzbürstig und herablassend, kokettierend und liebenswert. Natürlich ist immer auch ein wenig Cabaret dabei, augenzwinkerndes Spiel mit Geschlecht und Rolle. Doch ebendies macht aus dem "Grauen Engel" eine überaus amüsante Theaterstunde zwischen Beckett und Tuntenball. Kurz und gut.

MATTHIAS BISCHOFF (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.3.2002)